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Eine junge Frau mit Downsyndrom steht in der WG-Küche neben einem Flipchart und blickt entschlossen in die Kamera
Eine junge Frau mit Downsyndrom steht in der WG-Küche neben einem Flipchart und blickt entschlossen in die Kamera

Empfehlungenan die Politik

Wege bereiten für inklusives Wohnen

Menschen mit Behinderung haben das Recht, selbstbestimmt über ihre Wohnsituation zu entscheiden und in der Mitte der Gesellschaft zu leben. So steht es in Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland geltendes Recht ist. In den letzten Jahren hat sich deshalb in Deutschland eine Innovationsnische für inklusives Wohnen herausgebildet. Mutige private Initiativen, Wohnungsunternehmen und Anbieter der Behindertenhilfe zeigen mit ihren Projekten, wie selbstbestimmtes Wohnen praktisch verwirklicht werden kann. Ihre Erfahrungen machen jedoch auch deutlich, welche Hürden für inklusives Wohnen bestehen. Zum Abbau dieser Hürden haben wir folgende neun Empfehlungen an die Politik.

9 Empfehlungen aus der Praxis an die Politik

1) Förderungen inklusionsorientiert überarbeiten
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Trotz des ausgegebenen Ziels der Ambulantisierung und Dezentralisierung ist die öffentliche Förderlandschaft zu Ungunsten inklusiver Wohnprojekte ausgerichtet. So können aus den Mitteln der Ausgleichsabgabe nur „Wohnstätten für behinderte Menschen“ (§ 30 Abs. 1, Nr. 6 SchwbAV) finanziert werden. Dies führt selbst bei der begrüßenswerten Konversion von Komplexeinrichtungen häufig zur Entstehung neuer besonderer Wohnformen mit bis zu 24 Bewohner:innen. Die finanziellen Anreize stehen in Widerspruch zum gesetzten politischen Ziel. Wir fordern, dass der Einsatz öffentlicher Fördermittel konsequent an der Zielsetzung der Inklusion ausgerichtet wird. Sie sollten Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften bei der Schaffung von barrierefreiem und inklusivem Wohnraum unterstützen, Gemeinschaftsräume und Clusterwohnungen fördern sowie flexible Wohnmöglichkeiten passend zu sich wandelnden Lebenslagen anregen. Wichtig ist auch die Kombinierbarkeit verschiedener Förderungen, um eine soziale Durchmischung in Wohnungen, Häusern und Quartieren zu ermöglichen. Hierfür ist es notwendig, dass sozial geförderter Wohnraum auch durch Anbieter der Behindertenhilfe und andere Akteure angemietet und untervermietet werden kann.

2) Neue Wohngemeinnützigkeit inklusiv denken
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Für inklusive Wohnmöglichkeiten müssen neben ausreichend barrierefreiem und bezahlbarem Wohnraum weitere Anforderungen erfüllt sein: Um Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf eine bedarfsgerechte Assistenz und Pflege außerhalb von besonderen Wohnformen zu ermöglichen, werden beispielsweise Clusterwohnungen, Assistenzzimmer u. v. m. benötigt, die in der Regel nur im Neubau umsetzbar sind. Als gemeinnützig im Sinne der neuen Wohngemeinnützigkeit sollten deshalb insbesondere solche Wohnungsunternehmen gelten, die bezahlbaren und barrierefreien Wohnraum schaffen sowie durch die Kooperation mit sozialen Trägern und privaten Initiativen zur Entwicklung von inklusiven Wohnformen beitragen.

3) Information & Beratung ausbauen
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Inklusive Wohnmöglichkeiten entstehen nicht einfach durch neue Gesetze. Wohnungsunternehmen fehlt das Wissen zu den Bedarfen, Anbieter der Behindertenhilfe sind häufig durch ihre bestehenden Strukturen und Verträge gehemmt und private Initiativen mit den komplexen Aufgaben oft überfordert. Damit die Inklusionswende gelingt, braucht es landesweite Fachstellen sowie eine bundesweite Koordination, die in Zusammenarbeit mit den vorhandenen Unterstützungsstrukturen alle relevanten Akteure zu inklusivem Wohnen informieren und beraten. Bestehende Beratungsstellen wie die Fachstelle Wohnen des Landes Baden-Württemberg oder die Regionalstellen von WOHN:SINN in Bremen, Dresden, Köln und München zeigen, dass die Entstehung inklusiver Wohnmöglichkeiten dadurch wirksam erleichtert werden kann.

4) Grundsicherung erhöhen
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Viele Menschen mit Behinderung, die beispielsweise in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeiten, finanzieren ihre Miete über die Grundsicherung. Durch die steigenden Miet- und Baukosten sowie die Inflation ist es vielerorts unmöglich geworden, geeigneten Wohnraum für Menschen mit Behinderung zu finden bzw. zu bauen. Steigende Mietniveaus von 35% sind keine Seltenheit. Die Differenz zwischen Mietpreis und Angemessenheit der Miethöhe verwehrt Menschen mit Behinderung den Zugang zu Neubauten, obwohl gerade diese häufig barrierearm sind. Die Bundesregierung will die Grundsicherung durch ein „Bürgergeld“ ersetzen. Der Referentenentwurf hierfür sieht eine Karenzregelung von 2 Jahren vor, in denen die Kosten für Mietwohnungen grundsätzlich als angemessen angesehen werden. Wir halten dies für nicht ausreichend und fordern dauerhaft die Sätze für angemessenen Mietwohnraum bedarfsgerecht aufzustocken oder einen angemessenen Zuschlag für Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Soweit kein als angemessen geltender Wohnraum zur Verfügung steht, sollen die tatsächlichen Wohnkosten erstattet werden.

5) „Wohnen für Assistenz“ etablieren
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In vielen inklusiven Wohnmöglichkeiten leisten junge Studierende und Auszubildende im Gegenzug für eine reduzierte Miete alltägliche Assistenz für ihre behinderten Mitbewohner:innen bzw. Nachbar:innen. Diese Erfahrung baut nicht nur Berührungsängste ab, viele von ihnen entscheiden sich auch für einen Beruf im sozialen Bereich – selbst, wenn sie vor dem Einzug andere Pläne hatten. Ein solches Engagement leistet damit einen nachhaltigen Beitrag zur Nachwuchsgewinnung für Berufe im Pflege- und Sozialsektor. Konzepte der Alltagsassistenz wie „Wohnen für Assistenz“ brauchen in Deutschland einen verlässlichen rechtlichen Rahmen, der sie im Hilfesystem verankert und sachdienliche Qualitäts-Anforderungen sicherstellt. Gerade in Hinblick auf den demografischen Wandel muss das Potenzial von ehrenamtlichem und nebenberuflichem Engagement sowie nachbarschaftlicher Hilfe gestärkt werden. Dies darf jedoch keinesfalls zulasten von Qualitätsstandards und der tariflichen Vergütung in der Eingliederungshilfe geschehen.

6) Fachkräfte qualifizieren und finanzieren
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Mit dem Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe von der Fürsorge zur Selbstbestimmung und Teilhabe ändern sich auch die Anforderungen an Fachkräfte der Behindertenhilfe. In der Praxis inklusiver Wohnformen stehen sowohl die individuelle Assistenz von Menschen mit Behinderung als auch die Moderation des inklusiven Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderung in der WG, Hausgemeinschaft oder Nachbarschaft auf der Tagesordnung. Da inklusive Wohnprojekte häufig einen Teil der Assistenz durch Laienkräfte wie Mitbewohner:innen, Nachbar:innen oder Minijober:innen abdecken (siehe 5.), sind oft weniger Fachkräfte als in vergleichbaren institutionellen Wohnformen nötig. Gleichzeitig sind die Anforderungen an die leitenden Fachkräfte besonders hoch, da sie den inklusiven Prozess koordinierenden und begleiten müssen. Gutachten kommen zu dem Schluss, dass hierfür entsprechend akademisch qualifizierte Sozial- bzw. Heilpädagog:innen notwendig sind. Die besonderen Anforderungen an Fachkräfte im inklusiven Wohnen müssen in Leistungsmodulen und -vereinbarungen der Kostenträger finanziell berücksichtigt werden und in den Lehrplänen von relevanten Ausbildungsstätten und Studiengängen Einzug erhalten.

7) Menschen mit Behinderung wirksam empowern
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Die durch das Bundesteilhabegesetz deutschlandweit geschaffenen Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungsstellen (EUTB) sind für viele Menschen mit Behinderung wertvolle Lotsen im regionalen Angebot und eine hilfreiche Unterstützung bei Antragsstellungen. Regelmäßig finden Menschen mit Behinderung jedoch auch durch die Beratung der EUTBs kein Wohnangebot, was ihren Wünschen und Bedarfen entspricht, vielfach weil es kaum inklusive Wohnangebote gibt. In der Folge fühlen sie sich mit ihren Anliegen alleingelassen. Damit Teilhabeberatungsstellen ihrem Anspruch an Empowerment gerecht werden, sollten sie Betroffene und Angehörige weitergehend begleiten, mit Gleichgesinnten vernetzen und die Gründung von Projektgruppen unterstützen. Durch eine entsprechende Ergänzung des Förderauftrags des BMAS kann die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung im Wohnen wirksam gestärkt werden.

8) Personenzentrierte Angebote flächendeckend umsetzen
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Das mit dem Bundesteilhabegesetz reformierte SGB IX will personenzentrierte Leistungen zur Teilhabe sichern und die Entwicklung individueller Assistenzangebote fördern. Menschen mit intensivem Unterstützungsbedarf müssen hierbei umfassend berücksichtigt werden, damit diese inklusiv wohnen können. Dazu ist es notwendig, dass personenzentrierte Assistenzbedarfe anerkannt werden sowie eine Beteiligung der leistungsberechtigten Personen und deren Vertreter:innen am Teilhabe- und Gesamtplanverfahren umgesetzt wird. Die vorhandenen Bedarfsermittlungsinstrumente sollten weiterentwickelt und in Bezug auf die Personenkreise bedarfsgerecht angewendet werden. Gerade in ambulanten Wohnformen ist die Inanspruchnahme der vollen Leistung der Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe wichtig. Ein Aufrechnen beider Leistungsansprüche bzw. Verschiebungen zwischen den Gesetzesbüchern gilt es zu klären. Leistungsberechtigte Personen sollten ebenfalls über die Nutzung des Persönlichen Budgets beraten werden, bei eingeschränkter Regiefähigkeit sollte eine Budgetassistenz bundesweit einheitlich zur Verfügung stehen und finanziert werden.

9) Nächtliche Unterstützung stärken
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Inklusiv zu wohnen ist ein Recht, das jedem Menschen unabhängig von seinem Unterstützungsbedarf zusteht. Gerade Personen, die auch nachts auf Assistenz angewiesen sind, wird ein Leben in einer ambulant begleiteten Wohnform immer wieder durch Kostenträger verwehrt. Dass es funktionieren kann, zeigen Vorreiter wie die Hausgemeinschaft des Vereins inklusiv wohnen Köln. Eine weitere Hürde in der nächtlichen Assistenz birgt das Arbeitszeitgesetz. Dieses sieht vor, dass bei Arbeitszeiten über 6 Stunden eine Pause von 30 Minuten, über 9 Stunden eine Pause von 45 Minuten zu gewähren ist. Gerade bei Nachtwachen ist dies oft schwer oder gar nicht umzusetzen, weil sie in der Regel allein arbeiten, während einer Pause also tatsächlich in Arbeitsbereitschaft sind. Hierfür braucht es eine klare Regelung, die die Rechte der Arbeitnehmer:innen wahrt, aber auch eine Nachtwache außerhalb institutioneller Strukturen erleichtert.

Mitunterzeichner:innen


Die Empfehlungen wurden mitunterzeichnet durch den Bundesverband evangelische Behindertenhilfe, die Bundesvereinigung Lebenshilfe, den Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen, die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft, die Diakonie Deutschland, die Baugenossenschaft OEKOGENO und die Sozialheld:innen. Auf einem festlichen Empfang in Berlin nahm die parlamentarische Staatssekretärin des Bauministeriums Cansel Kiziltepe die Empfehlungen entgegen und versprach, sich für deren Umsetzung stark zu machen. Aus den Reihen der unterzeichnenden Organisationen sind weitere gemeinsame Aktionen geplant, um die Etablierung inklusiver Wohnformen voranzutreiben.